Openletter

In einem offenen Brief kritisieren diese 57 europäischen Organisationen die Haltung der Europäischen Kommission zur Genomeditierung.

57 Organisationen, darunter Bauernverbände und auch die SAG, sprechen sich in einem offenen Brief mit Nachdruck gegen die Deregulierungspläne der Europäischen Kommission aus. In einem Arbeitsdokument schlug diese im April 2021 vor, die Genomeditierung von den Anforderungen des aktuellen Gentechnikrechts auszunehmen. Als Folge wären solche Kulturpflanzen keiner GVO-Kennzeichnung, keiner Risikoprüfung und keiner Rückverfolgbarkeitsanforderungen mehr unterworfen – eine Gefahr für Gesundheit, Umwelt und die Wahlfreiheit. Auch eine Überwachung nach dem Inverkehrbringen wäre behindert, somit könnte in einem Schadenfall die Ursachen nicht ermittelt werden. Mit dem Arbeitsdokument überschreite die Kommission wichtige Grenzen in Bezug auf die biologische Sicherheit, die Transparenz, die Wahlfreiheit und den Konsumentenschutz, so die Unterzeichnenden des offenen Briefs.

Kommission verlässt sich zu sehr auf blosse Versprechungen

Bereits der Konsultationsprozess wird heftig kritisiert, denn er stützte sich vorwiegend (74% der Beiträge) auf unbewiesene Versprechungen der landwirtschaftlichen Gentechnik-Industrie. Zudem sind die Schlussfolgerungen der Kommission unzureichend referenziert: Die Behauptungen zum Potenzial der neuen Gentechnik beruhen ausschliesslich auf nicht überprüfbaren Geschäftsinformationen der Entwickler und nicht auf objektiven Beweisen aus unabhängigen Quellen ohne kommerzielle Interessen.

So gibt es beispielsweise bisher keine Beweise dafür, dass genomeditierte Pflanzen effektiv zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele beitragen könnten. Da sich die meisten dieser Produkte erst in der Forschungs- und Entwicklungsphase befinden und es fraglich ist, ob sie jemals auf den Markt kommen werden, bleiben diese Aussagen lediglich wohlklingende, aber leere Werbeversprechen. Pflanzen mit einer abiotischen Stresstoleranz gibt es unter den Produkten im vorkommerziellen Stadium keine. Dafür folgen die meisten Entwicklungen der Genomeditierung dem alten Muster: Herbizidtolerante Pflanzen dominieren weiterhin die Forschungslandschaft. Was hinter den wohlklingenden Versprechen steckt, ist das Bestreben der Agrarindustrie, weitere teure, patentierte Produkte verkaufen zu können. Die Patentlandschaft wird nämlich bereits vom Agrochemieriesen Corteva kontrolliert, kleine und mittlere Unternehmen haben hier – entgegen der Beteuerungen der EU Kommission – kaum eine Chance.

Risiken werden ignoriert

Die erhebliche Wissenslücken im Bereich der Risikoforschung werden auch von der Teilen der Wissenschaft angemahnt. Solche wissenschaftlichen Erkenntnisse werden aber von der Kommission ausgeblendet, obwohl sie im schlimmsten Fall zu Toxizität oder Allergenität führen könnten. Im Falle einer Deregulierung gewährleisten die bestehenden alternativen Rechtsvorschriften für Lebensmittel, Umweltschutz und Saatgutqualität weder Sicherheit noch regeln sie die Haftung – wie eine Analyse von Prof. Dr. Tade M. Spranger, Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn aufzeigt. Interessanterweise werden die Risiken der gleichen Technologie im Gegensatz dazu bei Anwendungen im Pharmasektor von der Kommission auf ganzer Linie anerkannt.

Auch die Schlussfolgerung der Kommission bezüglich der «Natürlichkeit» der Mutationen ist auffallend ähnlich wie die Darstellung der Gentechnik-Lobbygruppen (z.B. EU-SAGE, Euroseeds, Plants for the Future European Technology Platform ETP). Sie berücksichtigt nicht, dass die Genomeditierung auf Bereiche des Genoms zugreifen kann, die ansonsten vor natürlichen Mutationen geschützt sind. Werden zudem mehrere Gene gleichzeitig verändert, führt dies zu einer bisher nie gesehenen Eingriffstiefe – mit entsprechend erhöhten Risiken.

Die Kommission, die sich jahrelang geweigert hat, die Entwicklung von Nachweisverfahren für Produkte der neuen Gentechnik zu finanzieren, behauptet nun paradoxerweise, dass letztere nicht nachgewiesen werden können. Dabei stehen bereits Methoden zur Identifizierung von genomeditierten Sorten zur Verfügung und dies auch im Falle unbekannter GVOs.

Zusammengefasst sind die vorgeschlagenen Änderungen der GVO-Gesetzgebung in der EU laut den Unterzeichnenden unverhältnismässig, da sie wenig potenzielle Vorteile erbringen, während die Auswirkungen auf die Interessen von Konsumierenden, Landwirt:innen und Züchter:innen schwerwiegend sein könnten.

Die Organisationen fordern, dass die EU-Kommission die Fehlerhaftigkeit ihres Arbeitspapiers eingesteht und sich zusammen mit den Regierungen von der Förderung und Deregulierung der neuen Gentechnik distanziert und vielmehr die bestehenden GVO-Verordnungen durch zusätzliche Leitlinien zur Risikobewertung verschärft – zum Schutz von Gesundheit und Umwelt. Um den Folgen des Klimawandels und der Belastung durch Pestizide entgegen zu wirken, wäre es zielführender, nachhaltige Anbausysteme zu fördern. Die Kommission wird zudem aufgefordert, die Entwicklung und Anwendung bereits verfügbarer biochemischer und molekularer Verfahren zur Identifizierung genomeditierter Pflanzensorten zu fördern.