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Aktuell stellt die Corona-Krise unser gewohntes Leben auf dem Kopf. Aber nicht nur unsere täglichen Abläufe sind dadurch beeinträchtigt. Die Krise ruft allgemein zum Umdenken auf: auch in den Bereichen Wirtschaft, Landwirtschaft und Naturschutz braucht es einen Systemwechsel, warnen Wissenschaftler. Denn heute gleicht unsere Erde einer grossen industriellen Agrarfabrik. Land und Wälder werden masslos ausgebeutet, was zum Zusammenbruch ganzer Ökosysteme führt. Die Praktiken der hochindustriellen Nahrungsmittelproduktion gefährden die Menschheit und tragen wesentlich zur Ausbreitung schwerer Pandemien bei. Die Stärkung des Vorsorgeprinzips, effektive Naturschutzmassnahmen zur Erhaltung vielfältiger Ökosysteme sowie die Stärkung agrarökologischer Ansätze könnten Abhilfe schaffen.

Vorsorgeprinzip bei Epidemien und in der Landwirtschaft

Noch nie war das Vorsorgeprinzip von so grosser Aktualität. In den vergangenen Jahren wurde das Leitprinzip des Umweltrechts immer wieder von Biotechfirmen und Agrarmultis angefochten. Sie kritisierten, das Vorsorgeprinzip sei unwissenschaftlich und schränke die Forschung und Entwicklung neuer Technologien unangemessen ein, weil es nicht einmal die minimalen, unvermeidbaren Risiken zulasse. Doch der Sinn des Vorsorgeprinzips ist es, den Umgang mit Situationen der Unsicherheit zu meistern, in denen aufgrund mangelnden Risikowissens eine Risikobewertung noch nicht möglich ist.

Neue Technologien beruhen oft auf komplexen Modellen, die sich auf viele ungeprüfte Annahmen stützen. Bei solchen komplex vernetzten Systemen können einzelne Elemente ausser Kontrolle geraten und zu schwerwiegenden Konsequenzen führen. Entscheidungen sollten deshalb nie auf nicht getesteten Theorien basieren, vielmehr sollte man mit Einfachheit und Robustheit handeln – wie der Statistiker Nassim Nicholas Taleb und der US-Amerikanischer Systemwissenschaftler Yaneer Bar-Yamm bestätigen. Die Menschen halten nicht inne, um über mögliche Reaktionen auf eine Lawine nachzudenken, sie gehen ihr einfach aus dem Weg. Diese Metapher kann auf die aktuelle Situation angewendet werden: robuste, praktische Massnahmen, wie schnelle und umfassende Tests, Kontaktverfolgung und Isolierung, soziale Distanzierung und Vorsicht erwiesen sich wirksamer, die Ausbreitung des Coronavirus aufzuhalten als Theorien zur Herdenimmunität. Das gleiche gilt auch für die gängigen landwirtschaftlichen Praktiken. Altbewährte, auf die Agrobiodiversität basierende Techniken liefern nachhaltigere und mit weniger Gefahren verbundene Ergebnisse, als ungeprüfte «Technofixes», die – zusammen mit der masslosen Ausbeutung natürlicher Lebensräume als Folge der Landgier der industriellen Landwirtschaft – die Mitschuld an der Entstehung von Pandemien wie die Corona-Krise tragen.

Mit Biodiversität gegen Pandemien – weltweite Naturschutzmassnahmen dringend gefordert

Die Menschheit ist auf vielfältige und funktionsfähige Ökosystemen angewiesen. Die zunehmende Zerstörung von natürlichen Lebensräumen lässt das Risiko einer Pandemie steigen: mit anderen Worten – die Coronakrise ist auch eine Folge der ökologischen Krise. Ob Fledermaus, eine andere Tierart oder Entweichung aus einem Labor als Folge menschlicher Fahrlässigkeit – ohne Verschwörungstheorien Zündstoff liefern zu wollen – fest steht, dass ca. 70 Prozent aller menschlichen Infektionserreger aus dem Tierreich stammen, darunter auch die gefürchtetsten wie HIV, Ebola oder SARS.

Zu den Erstinfektionen kommt es vor allem dort, wo Menschen und Tiere in engsten Kontakt treten. Um ein triviales Beispiel zu nennen: auf Märkten, wo Tiere zusammengezwängt und unter mangelhaften hygienischen Zuständen gehalten werden. Weniger offensichtlich, jedoch ein umso wichtiger Faktor ist der Gleichgewichtsverlust der Ökosysteme als Folge menschlicher Eingriffe. Daran ist zu einem grossen Teil auch die intensive Landwirtschaft schuld. Waldrodungen für mehr nutzbares Land und Monokulturen, wie sie bei Gentech-Pflanzen verwendet werden, lassen natürliche Lebensräume schrumpfen und Arten verschwinden. Mit der Vereinheitlichung grosser Landflächen schwindet auch deren funktionelle Vielfalt. Damit verändert sich die Zusammensetzung natürlicher Ökosysteme und Interaktionsketten. Den verkleinerten Lebensraum teilen sich Arten und Individuen, die sonst nicht so dicht zusammenleben würden. Dadurch wird die Ausbreitung verschiedener Infektionskrankheiten begünstigt. Zuvor eingeschlossene Krankheitserreger springen auf die lokale Viehzucht über und schliesslich auch auf menschliche Gemeinschaften. Das enge Zusammenleben und menschliches Verhalten führen zu Stress und erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Krankheitsübertragung zusätzlich. Denn Stress schwächt das Immunsystem. Ein bekanntes Beispiel dafür sind Fieberbläschen, die immer dann erscheinen, wenn unser natürliches Abwehrsystem überbelastet ist und die Herpesviren nicht mehr unterdrücken kann. Gestresste Tiere in engen Käfigen auf Märkten oder in begrenzten natürlichen Revieren reagieren ähnlich – das Risiko einer Übertragung von Tier auf Mensch steigt. Auch beim vermeintlichen Überträger des Coronavirus, einer Fledermausart dürfte dies der Fall gewesen sein, sagt Andrew Cunningham, Professor für Wildtier Epidemiologie der Zoologischen Gesellschaft London.

Im Gegensatz dazu sind vielfältige Ökosysteme widerstandsfähiger. Funktionsfähige, artenreiche Ökosysteme sind kein überflüssiges Luxusgut für Schöngeister mit einem Flair für Ästhetik. Die Ernährungsgrundlage und die Gesundheit der Menschheit sind davon abhängig, wie auch der Umweltforscher Professor Josef Settele, Ko-Vorsitzender im Globalen Bericht des Weltbiodiversitätsrats bestätigt. Um die Resilienz der Ökosysteme zu erhöhen, braucht es effektive Naturschutzmassnahmen, die den Erhalt der Vielfalt stützen. Aus diesem Grund wurde bereits der Weltbiodiversitätsrat aufgerufen, den globalen Wissenstand dazu aufzuarbeiten, um die Basis für eine neue Biodiversitätsstrategie zu legen. Angesichts der neusten Ereignisse hat auch die Vertragsstaatenkonferenz COP15 noch mehr an Bedeutung gewonnen.

Agrobiodiversität statt Agrobusiness

Wie aus dem globalen Bericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES ersichtlich ist, forderten Umweltwissenschaftler schon vor der Corona-Krise einen systemweiten transformativen Wandel der Gesellschaft zum Schutz unserer Lebensgrundlagen. Dabei sind neben Naturschutz auch Wirtschaft, Technologie und Landwirtschaft gefordert, sich neu zu definieren. Denn der Verlust der Vielfalt als Folge von gewinnorientierten Technologien und Anbautechniken betrifft auch unsere Ernährungsgrundlage.

Tritt die marktorientierte Landwirtschaft an die Stelle der natürlichen Ökosysteme, bietet sie Krankheitserregern eine ideale Möglichkeit, sich ungehemmt und ohne Grenzen zu verbreiten. Homogene Sorten und Rassen wie sie die industrielle Landwirtschaft benötigt, sind genetisch gesehen austauschbare Klone. Mit solchen Kulturen oder Herden werden die natürlichen Immunschranken beseitigt, welche eine genetisch heterogene, vielfältige Population vor Krankheiten schützt. Die Anbaudichte im Pflanzenbau und die beengten Platzverhältnisse in der Tierhaltung fördern zudem hohe Übertragungsraten. Doch die Agrarindustrie ist derart auf Gewinn fokussiert, dass sie diese Schäden, zusammen mit den umfangreichen anderen negativen Auswirkungen der intensiven Landwirtschaft, auf Mensch, Natur, Gesundheit und Gesellschaft in Kauf nimmt – schreibt der Evolutionsbiologe Rob Wallace in seinem 2016 erschienenen Buch «Big farms make big flu».

Vor den Gefahren der drastischen Verringerung der Vielfalt von Pflanzensorten und Tierrassen als Folge der globalisierten und standardisierten Nahrungssysteme, bedingt durch die sich immer weiter ausbreitende agroindustrielle Landwirtschaft, warnt auch die Schweizer Akademie der Naturwissenschaften in ihrem Faktenblatt zur Agrobiodiversität. Politik und Forschung sollen Wege einschlagen, um die Erhaltung der Agrobiodiversität als Grundlage für widerstandsfähige Nahrungssysteme vor dem Hintergrund des Klimawandels sicherzustellen.

Geht die profitorientierte Nahrungsmittelproduktion der multinationalen Unternehmen unverändert weiter, dürfte Covid-19 kein Einzelfall bleiben. Doch noch immer sind die wenigsten Regierungen und Forschende dazu bereit, anstatt Notfälle symptomatisch zu behandeln, die mit dem gängigen Landwirtschaftsmodells verbundenen, tieferliegenden strukturellen Ursachen anzugehen.