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Nur weil etwas Umstrittenes zugelassen ist, kann dies nicht als Argument genutzt werden, um etwas potenziell Schädliches zuzulassen. Bild: Shutterstock

Die Zufallsmutagenese (syn. herkömmliche Mutagenese) bringt laut Definition im Gentechnikgesetz gentechnisch veränderte Organismen hervor. Trotzdem ist sie in der Schweiz und in der EU zugelassen. Warum? Ist dies ein Argument dafür, die neue Gentechnik (alias „gezielte Mutagenese“) zu deregulieren? Ist die neue Gentechnik, wie behauptet harmloser, da gezielter als die Zufallsmutagenese? Die Antworten finden sie in unserem Factsheet.

Was ist herkömmliche Mutagenese?

Bei der herkömmlichen Mutagenese (auch Zufallsmutagenese oder Mutationszüchtung genannt) wird das Erbgut der Pflanzen Bedingungen ausgesetzt, welche das Erbgut verändern. Es handelt sich um chemisch-physikalische Reize, die so dosiert werden können, dass die Überlebensfähigkeit der Pflanzen erhalten bleibt. Anschliessend werden die entstandenen Mutanten auf interessante Gene bzw. Eigenschaften durchsucht. Diese werden dann in vorhandene Sorten eingekreuzt.

Spontane Mutationen (Veränderungen) der DNA treten natürlicherweise bei allen Lebewesen auf. Ausgelöst werden sie beispielsweise durch Umwelteinflüsse wie Strahlung (z.B. UV-Licht) oder durch Substanzen (z.B. Umweltgifte). Weil solche Veränderungen im Genom etwa beim Menschen oft schädliche Auswirkungen haben, versucht man hier u.a. durch Schutzmassnahmen wie Sonnenschutz oder durch das Meiden bestimmter Substanzen vorzubeugen.

In der Pflanzenzüchtung hingegen sind Mutationen im Erbgut oft erwünscht: Mit ihrer Hilfe werden genetische Varianten erzeugt, die zu Pflanzen mit Eigenschaften wie besonderem Wuchs, grösseren Früchten oder Resistenzen gegen Umwelteinflüsse führen können. Um solche wünschenswerten Mutationen zu finden, werden natürliche Populationen und gezüchtete Sorten durchsucht und dann weiter vermehrt und miteinander gekreuzt, um eine optimale Kombination der Erbinformationen zu erreichen.

Manche Züchter beschleunigen die Mutationsrate durch den Einsatz von ionisierender Strahlung oder chemischen Stoffen. Das Ziel einer solchen „Mutagenese“ ist die Erhöhung der genetischen Vielfalt innerhalb kürzerer Zeiträume, als sie natür-licherweise zu erwarten sind. Pflanzen, die durch die Mutation in ihrer Entwicklung gestört sind bzw. unerwünschte Resultate aufweisen, werden aussortiert.

Wie wird die herkömmliche Mutagenese reguliert?

In der Schweiz werden herkömmliche Mutageneseverfahren aufgrund ihrer langen Geschichte der sicheren Nutzung (history of safe use) nicht als Gentechnik eingestuft. Dies obwohl sie im Sinne der Definition im Art. 5 Abs. 2 des Gentechnikgesetzes zu gentechnisch veränderten Organismen führen. Denn mit einer Behandlung durch Chemikalien oder Strahlungen wird das Erbgut eines Organismus so verändert, wie dies unter natürlichen Bedingungen durch Kreuzen oder natürliche Rekombination nicht vorkommt.

In der EU gilt für sie aus dem gleichen Grund eine Ausnahmeregelung. Basierend auf der Geschichte der sicheren Nutzung sind aber in beiden Fällen vor einer Vermarktung keine gesetzlichen Massnahmen für die Risikoprüfung der so entstandenen Pflanzensorten vorgeschrieben. Das heisst, Pflanzen, die mit diesen Verfahren hergestellt wurden, können ohne Kennzeichnung und detaillierte Risikoprüfung schnell vermarktet werden.

Dies versucht die Biotechbranche auszunutzen. Einerseits indem sie für die neuen Gentechniken (u.a. CRISPR/Cas) den Begriff „gezielte Mutagenese“ verwendet, andererseits versucht sie aber auch neuartige, potentere Mutagenesetechniken zu entwickeln. Mit der Umbenennung der neuen Gentechnik wird auf die herkömmliche Mutagenese angespielt – die, wie oben ausgeführt, nicht der Gentechnikrichtlinie unterliegt. Auf diese Weise wird versucht, die Grenze zwischen Gentechnik und Nichtgentechnik zu verschieben, um die politischen Prozesse in Richtung Deregulierung zu beeinflussen. Doch zu den Auswirkungen neuer Gentechniken ist kaum Wissen vorhanden. Dies trifft auch für neuartige Mutagenesetechniken zu. Eine Geschichte der sicheren Nutzung existiert folglich in beiden Fällen nicht.

Die Biotech-Industrie suggeriert trotzdem, dass Genscheren wie CRISPR/Cas Pflanzen hervorbringen, die sich von konventionellen gezüchteten Sorten kaum unterscheiden lassen, und daher auch von der Gentechnikregulierung ausgenommen werden sollten. Dabei wird oft auch auf die angeblich fehlende Nachweisbarkeit der technisch induzierten Mutationen verwiesen. Es wird behauptet, diese Pflanzen hätten auch in der Natur entstehen können und sie liessen sich nicht von natürlichen Veränderungen unterscheiden. Doch das ist in den meisten Fällen nicht zutreffend: Liegen von den Herstellern entsprechende Daten darüber vor, was mit der neuen Gentechnik verändert wurde, lassen sich in der Regel auch Nachweisverfahren entwickeln. Diese Daten müssen im Rahmen der Zulassungsprozesse vorgelegt werden. Fallen die Zulassungsprozesse weg, fehlen auch die Daten für die Entwicklung der Nachweisverfahren.

Geschichte der Regulierung – Unterschiede zur neuen Gentechnik

Die Gentechnikgesetzgebung der Schweiz im Allgemeinen, insbesondere aber auch Anhang 1 der Freisetzungsverordnung haben ihren Ursprung im europäischen Recht. Die Schweiz hat sich damit der Entwicklung in der EU angepasst. Die Gesetzgebung basiert auf dem Vorsorgeprinzip, um die Risiken zu minimieren und Erfahrungen in Bezug auf neuen Methoden zu sammeln.

Das Prinzip der "history of safe use" ist ein integraler Bestandteil des Schweizer Rechts. Die Begriffe, die sich auf den Inhalt und die Dauer dieses Prinzips beziehen, können sich somit am europäischen Recht orientieren. Über eine „history of safe use“ verfügen Techniken, die traditionell für verschiedene Anwendungen eingesetzt werden und seit langem (d.h. seit mindestens 30 Jahren) als sicher gelten.

Nach Art. 5 Abs. 2 GTG ist ein gentechnisch veränderter Organismus ein Organismus, dessen genetisches Material so verändert worden ist, wie dies unter natürlichen Bedingungen durch Kreuzen oder natürliche Rekombination nicht vorkommt. Eine Eingriffstiefe, wie bei den neuen Gentechniken – inbesondere in Bezug auf Genorte, die besonders vor Mutationen geschützt sind – kommt natürlicherweise nicht vor. Dies ist nicht nur bei CRISPR/Cas der Fall. Auch die sehr beschleunigte Frequenz, mit der beispielsweise die bei der Methode "TEgenesis" verursachten Mutationen stattfinden, kommt in der Natur nicht vor. Denn natürliche Mutationen treten nur in begrenztem Umfang und über einen längeren Zeitraum auf. (Die vom Schweizer Unternehmen Epibreed entwickelte Methode (TEgenesis) wird von ihrem Erfinder als Alternative zur Gentechnik beworben. Das Verfahren beruht darauf, dass springende genetische Elemente je nach Stressbedingungen zu einer Aktivierung bestimmter Genexpressionen führen können. Die im Erbgut vorhandenen springenden Elemente werden mit chemischen Substanzen aktiviert.)

Die Kenntnisse und die Dauer, die für die Feststellung einer „history of safe use“ erforderlich sind, sind im Falle der neuen Gentechnik (u.a. der Genschere CRISPR/CAS oder neuartiger Mutagenesetechniken wie TEGenesis) nicht vorhanden. Deshalb können sie in der EU nicht von einer Ausnahme aus dem Gentechnikgesetz profitieren, in der Schweiz müssen sie im Gentechnikgesetz reguliert werden.

Warum ist bei der neuen Gentechnik mit einer erhöhten Eingriffstiefe zu rechnen?

Die neuen Gentechnikverfahren erlauben eine erheblich erhöhte Eingriffstiefe als die bisher üblichen Verfahren der konventionellen Züchtung: Die Gentechnik greift in den Zellkern ein und umgeht dabei die „Spielregeln“ von Genregulation und Vererbung. Die herkömmliche Mutagenese kann die natürlichen biologischen Mechanismen beschleunigen, tut dies aber innerhalb der im Laufe der Evolution natürlich entwickelten Mechanismen.

Wenn man den Prozess der gentechnischen Veränderung nicht mitbetrachtet, sondern sich nur auf das Produkt fokussiert, könnte man behaupten, dass die von der Genomeditierung verursachten Punktmutationen auch natürlich entstehen könnten. Zudem sollen sie im Gegensatz zur herkömmlichen Mutagenese gezielt hervorgerufen werden können. Die Biotech-Industrie stützt sich auf dieses Argument und plädiert dafür, dass neue Gentechniken, die auf Punktmutationen basieren, vom Gentechnikgesetz ausgenommen werden.

Doch Techniken, die auf dem Einsatz biotechnologischer Mutagene beruhen, unterscheiden sich im Verfahren und in den Ergebnissen von denen der bisherigen Methoden. Im Vergleich zur herkömmlichen Mutagenese und konventioneller Züchtung, können sich das Muster der genetischen Veränderung und deren biologische Wirkungen deutlich von denen der konventionellen Zucht unterscheiden. Gründe dafür sind spezielle Mechanismen in den Pflanzenzellen, die dazu dienen, Genfunktionen aufrecht zu erhalten. Anders als die konventionelle Züchtung (einschliesslich der herkömmlichen Mutagenese) können NGTs die Beschränkungen der natürlichen Genomorganisation, wie sie von der Evolution hervorgebracht wurden, überschreiten und so zu Genotypen und Phänotypen führen, die aus herkömmlichen Mutageneseverfahren nicht zu erwarten wären. Zu diesen natürlichen Beschränkungen gehören Mechanismen zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von Genfunktionen wie Reparaturprozesse, Genkopien und die Kopplung von Genen. Insbesondere die Genschere CRISPR/Cas macht das Erbgut in grösserem Umfang für Veränderungen verfügbar.

Reparaturprozesse Natürliche Mutationen und solche die von der herkömmlichen Mutagenese verursacht werden, betreffen nicht alle Regionen des Erbguts gleichermassen. Denn in der Natur unterliegen sie verschiedenen Steuerungsmechanismen. So werden gewisse Regionen des Genoms – oft solche die eine lebenswichtige Funktion regulieren – durch zelluläre Mechanismen gegen Mutationen geschützt.

Es ist die Epigenetik, welche dafür sorgt, dass Mutationen an diesen Orten sehr selten vorkommen, vermutlich weil dies für den Organismus von Nachteil wäre. Als Epigenetik werden die natürlichen Mechanismen der Genregulierung bezeichnet, welche darüber entscheiden, ob eine Gensequenz abgelesen wird oder nicht. Sie kann zum Beispiel dafür sorgen, dass die DNA in bestimmten Bereichen besonders fest verpackt und damit weniger aktiv ist. Damit ist diese Region auch gegenüber Einwirkungen von aussen oft besser geschützt als andere Regionen. Ausserdem gibt es verschiedene Schutzmechanismen, die dafür sorgen, dass nach einer Mutation der ursprüngliche Zustand des Erbgutes wiederhergestellt wird.

Zu den zelleigenen Anpassungsmechanismen gehören auch sogenannte „springende Gene“ (Transposons), durch die Genabschnitte innerhalb des Erbgutes an eine andere Stelle kopiert werden können. Dabei gibt es unterschiedliche Mechanismen, die die Häufigkeit und den Ort des Einbaus der Gene beeinflussen können – je nach Art des Transposons. Im Ergebnis haben Pflanzen besonders viele Möglichkeiten, ihr Erbgut zu verändern und es gleichzeitig zu schützen. Das ist wichtig: So kann eine Art über Jahrmillionen hinweg in ihren Eigenschaften stabil bleiben und sich dennoch innerhalb einer gewissen Bandbreite an sich verändernden Umweltbedingungen anpassen.

Da Pflanzen im Allgemeinen ortsfest sind, können sie nicht durch Ortswechsel widrigen Umweltbedingungen ausweichen, sondern müssen sich so gut wie möglich anpassen. Das Erbgut von Pflanzen ist deswegen in manchen Bereichen flexibler als bei Tieren – ein wichtiger Teil ihrer Überlebensstrategie. Die neue Gentechnik kann diesen Schutz umgehen und erlaubt es, auch an diesen Genorten Mutationen zu forcieren. Somit erhöht sie die Eingriffstiefe – mit potenziell erhöhten Risiken.

Genkopien Als weiterer Schutz liegen in Pflanzen gewisse Geninformationen in mehreren Kopien vor. Sie tragen sozusagen „Sicherheitskopien“ im Erbgut, d.h. viele Gen-sequenzen finden sich gleich mehrfach in den Zellen. Geht eine verloren, kann die Zelle die Kopien weiterhin nutzen. Mit CRISPR/Cas können neu all diese Kopien gleichzeitig verändert werden. Zudem werden oft mehrere verschiedene Gene gleichzeitig verändert (sog. Multiplexing), was dazu führt, dass sich auch die Risiken vervielfachen, die mit dem Prozess verbunden sind.

Gekoppelte Gene Gekoppelte Gene werden natürlicherweise miteinander an nachfolgende Generationen weitervererbt werden. In der Tomate werden zum Beispiel grosse Anteile des Erbgutes gekoppelt weitergegeben. So wird etwa das Gen, das für die Entwicklung der Trennungszone zwischen der reifen Tomate und dem Stängel verantwortlich ist, gemeinsam mit einem anderen Gen vererbt, das die Fruchtform bestimmt. Wird eine Veränderung im Gen für die Trennungszone eingeführt, tragen die Tomaten deformierte Früchte. Diese beiden Eigenschaften können mit der Genschere entkoppelt und voneinander getrennt vererbt werden.

Unbeabsichtigte Veränderungen Zudem kommt es auf verschiedenen Stufen des Ein-satzes der Genschere auch zu unbeabsichtigten Genveränderungen, die sich in ihrem Muster, dem Ort, dem Ergebnis und den biologischen Wirkungen von denen der konventionellen Zucht unterscheiden können. Dazu gehören die Insertionen von Transgenen, die Verwechslung von Zielsequenzen und die Auslösung von chaotischen Zuständen im Erbgut (Chromothripsis). Während es also möglich ist, mit der Genschere be-stimmte Stellen anzusteuern, ist es nicht möglich, mit ausreichender Gewissheit die Folgen dieses Eingriffs für das Erbgut, die Pflanzen und die Umwelt vorherzusagen oder zu kontrollieren. Deswegen sind in jedem Fall eine detaillierte Analyse und Risikobewertung notwendig, bevor die Sicherheit der Pflanzen beurteilt werden kann.

Die Ebene des Eingriffs – ein wichtiger Unterschied

Züchter können die oben beschriebenen Mechanismen der genetischen Variabilität nutzen. Dabei arbeitet die konventionelle Züchtung, immer mit ganzen Zellen beziehungsweise auf der Ebene von Organismen. Die Gentechnik (inklusive neuer Gentechnik) greift dagegen direkt auf der Ebene des Erbguts ein und versucht die Mechanismen der natürlichen Vererbung teilweise zu umgehen oder zu manipulieren. Sie kann daher auf keinen Fall als Fortsetzung der traditionellen Züchtung betrachtet werden.

Herkömmliche Mutagenese – doch nicht so unbedenklich?

Über die Unbedenklichkeit der herkömmlichen Mutagenese wird neuerdings kontrovers diskutiert. Fallspezifisch werden sogar Neubeurteilungen in Betracht gezogen.

Einige Verfahren zur Auslösung von Mutationen gelten als natürlicher und unbedenklicher als andere. In der Natur wirkt UV-Licht über das Sonnenlicht beständig auf die Pflanzen ein und löst auch beständig Mutationen auslöst. Die herkömmliche Mutagenese nutzt beispielsweise Röntgenstrahlen oder sehr wirksame Chemikalien. All diese Verfahren hinterlassen keine Rückstände in den Pflanzen, aber die Bandbreite der Veränderungen des Erbguts kann je nach Verfahren extrem gesteigert werden. Das führt auch zur Diskussion, ob tatsächlich alle Techniken der herkömmlichen Mutagenese unbedenklich sind.

In der Tat könnten aus der herkömmlichen Mutagenese Pflanzen entstehen, die für die Ernährung nicht geeignet sind. So könnte unter Umständen der Gehalt an gesund-heitsschädlichem Solanin in Nachtschattengewächsen (wie Tomaten oder Kartoffeln) oder der Gehalt an Gluten ansteigen. Manche Züchtungsergebnisse sind für die nachhaltige Landwirtschaft ganz einfach ungeeignet, etwa wenn aufgrund der Züchtungsziele Pflanzen entstehen, bei deren Anbau mehr Pestizide oder Dünge-mittel eingesetzt werden müssen.

Deswegen wird bisweilen gefordert, dass auch Pflanzen, die aus der herkömmlichen Mutagenese kommen, von Fall zu Fall untersucht werden (z.B. in der EU nach der ‚Novel Food-Verordnung‘). Grundsätzlich sind spontane Mutationen, wie sie durch die herkömmliche Mutagenese entstehen, unkontrollierbar. Die Evolution und damit die Anpassungsmechanismen der Pflanzen können keiner gesetzlichen Regulierung unterworfen werden. Prüfen kann man aber einzelne Ergebnisse, das heisst, die Produkte der konventionellen Züchtung, wenn sich entsprechende Hinweise auf Risiken ergeben.

Zum Factsheet "Mutagenese"