(Bild: fotolia; Mikroskopische Aufnahme einer Zelle des Rüsselkäfers)
Fokusartikel Gentechfrei Magazin Nr. 99
Die Auswirkungen der neuen Gentechnikverfahren sind nur unvollständig voraussehbar
Mit dem Aufkommen der neuen Gentechnikverfahren, besonders der Genscheren wie CRISPR/Cas, ist die Frage um die Gentechnikgesetzgebung neu entflammt und beschäftigt weltweit Regulierungsbehörden und Gerichte – auch in der Schweiz und der EU. Obwohl sie grundsätzlich einfach zu beantworten ist. Es handelt sich bei den neuen Techniken um Gentechnik. Zu diesem Schluss kommen verschiedene Rechtsgutachten. Nur eine Unter-stellung unter das Gentechnikrecht gewährt genügend Sicherheit und garantiert die Anwendung des Vorsorgeprinzips.
Text: Paul Scherer und Luigi D’Andrea
Die Regelung der Gentechnik ist seit ihrem Aufkommen in den 90er-Jahren politisch hochbrisant. Eine Vielzahl ethischer, ökologischer, wirtschaftlicher, geopolitischer und gesundheitlicher Überlegungen spielen mit. Sie kann nicht auf rein technische Gesichtspunkte beschränkt werden, sondern muss auch die Meinung der Öffentlichkeit miteinbeziehen, um zu annehmbaren Regelungen zu kommen.
Die aktuelle Gentechnikregulierung ist bereits in die Jahre gekommen. Denn sie basiert auf dem Wissensstand von Anfang der 2000er-Jahre. Die gesetzlichen Bestimmungen fokussieren dabei auf die Verfahren, welche zur genetischen Transformation eines Organismus eingesetzt werden. Denn diese Prozesse beinhalten eine Vielzahl von Unsicherheiten, welche unvorhersehbare und unerwünschte Auswirkungen auf das Genom haben können. Sie können sich auf die Physiologie des veränderten Organismus auswirken und damit auch auf die Umwelt, in der er lebt. Dies wiederum kann sich auch auf die Gesundheit anderer Organismen, die mit ihm in Berührung kommen, auswirken. Eine umfassende Überprüfung derartig veränderter Organismen ist daher unerlässlich, bevor sie freigesetzt werden dürfen.
In neuster Zeit hat sich die Technik jedoch schneller entwickelt als die gesetzlichen Regelungen, und so entstanden in kurzer Zeit zahlreiche rechtliche Grauzonen. Die heute diskutierten neuen Gentechnikverfahren (NGTV) entsprechen nicht mehr den juristischen Kategorien von damals, heisst es in einem Rechtsgutachten, das StopOGM und die SAG in Auftrag gegeben haben. «Eine Auslegung des gesetzlichen Rahmens und auf längere Sicht eine Anpassung ist daher nötig», sagt der Jurist Maximilian Stauber, der das Gutachten erstellt hat. Stauber ist Experte für das Vorsorgeprinzip, das die Grundlage des Gentechnikgesetzes bildet.
Internationaler Rahmen der Gentechnikregulierung
Schon die kleinste Veränderung im Genom kann auf der Zellebene grosse Veränderungen auslösen. (Bild: fotolia; Pflanzenzellen unter dem Mikroskop)
Gentechnisch veränderte Organismen (GVO) sind verschiedenen internationalen Normen unterworfen. Das Cartagena-Protokoll, der Codex Alimentarius und das WTO-Abkommen (World Trade Organization = Welthandelsorganisation) bilden die wesentlichen Rechtsnormen für den Handel mit GVO. Theoretisch dürfen GVO gemäss WTO international frei gehandelt werden. Die Staaten können jedoch rechtmässige Beschränkungen erlassen, sofern diese den Vorschriften des Cartagena-Protokolls und des Codex Alimentarius entsprechen.
In der Praxis ist die Frage aber ungelöst. Denn die nationalen Definitionen, was ein GVO ist, sind sehr unterschiedlich. Daher kommt es immer wieder zu Rechtsverfahren vor dem Streitbeilegungsgremium der WTO, beispielsweise Anfang der 2000er-Jahre zwischen den USA, Kanada und Argentinien einerseits und der EU andererseits. Da viele Fragen weiterhin ungelöst sind, wird die Biotechnologie besonders auch mit den neuen Gentechnikverfahren ein Knackpunkt bei den internationalen Beziehungen bleiben – denn sie sind mit schwerwiegenden wirtschaftlichen und politischen Interessen verknüpft.
Das Gentechnikrecht in der Schweiz und der EU beruht auf dem Vorsorgeprinzip
Die EU-Gesetzgebung über die GVO beruht auf der Richtlinie 2001/18/EG vom 12. März 2001. Die europäische Regulierung der Gentechnik beruht – wie auch die schweizerische – auf dem Vorsorgeprinzip (Glossar) und bezweckt den Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt. Die verwendete Definition des Vorsorgeprinzips ist abgeleitet von Grundsatz 15 der Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung: «Zum Schutz der Umwelt wenden die Staaten im Rahmen ihrer Möglichkeiten allgemein den Vorsorgegrundsatz an. Drohen schwerwiegende oder bleibende Schäden, so darf ein Mangel an vollständiger wissenschaftlicher Gewissheit kein Grund dafür sein, kostenwirksame Massnahmen zur Vermeidung von Umweltverschlechterungen aufzuschieben.» Es genügt folglich ein vorauszuahnender Schaden, um Massnahmen zu dessen Einschränkung zu ergreifen.
Art. 120 der Schweizer Bundesverfassung beauftragt den Bund, die Verwendung des Keim- und Erbguts von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen gesetzlich zu regeln, um den Menschen und seine Umgebung gegen Missbräuche in der Gentechnik zu schützen. Auf diesem Verfassungsartikel basiert das Schweizer Gentechnikgesetz (GTG) von 2003. Das GTG definiert GVO als «Organismen, deren genetisches Material so verändert worden ist, wie dies unter natürlichen Bedingungen durch Kreuzen oder natürliche Rekombination nicht vorkommt». Das GTG bezweckt den Schutz des Menschen, der Tiere, der Umwelt und der Wahlfreiheit der KonsumentInnen. Konkretisiert wird das GTG beispielsweise durch die Freisetzungsverordnung (FrSV), die den Umgang mit GVO in der Umwelt regelt, und durch Verordnungen der Lebensmittelgesetzgebung.
Europäischer Gerichtshof muss entscheiden
Gentechnische Veränderungen des Genoms können sich auf die Physiologie des veränderten Organismus auswirken und damit auch auf die Umwelt, in der dieser lebt. Dies wiederum kann sich auch auf die Gesundheit anderer Organismen, die mit ihm in Berührung kommen, auswirken. (Bild: Greenpeace)
Das geltende Gentechnikrecht der EU nimmt bestimmte Verfahren, zum Beispiel die Mutagenese, von der Regelung aus. Der Grund für die sogenannte Mutagenese-Ausnahme ist historisch bedingt. Die zufällige Mutagenese, die auf Strahlung oder chemischer Behandlung beruht, wurde in der Züchtung bereits seit 1920 verwendet. Daher wurde sie – obwohl es sich strenggenommen um Gentechnik handelt – als ein seit langem als sicher geltendes Verfahren eingestuft. Auch in der Schweiz.
Diese Ausnahmeregelung der Mutagenese sorgt nun in der Diskussion um die rechtliche Einordnung der neuen Gentechnikverfahren für heftige Diskussionen. Der Europäische Gerichtshof EuGH muss entscheiden, ob neue Mutagenese-Techniken (z.B. CRISPR/Cas) gentechnische Prozesse implementieren und als gentechnische Verfahren eingestuft werden müssen oder nicht. «Nein», fordern Gentechnikbefürworter. Bei den Veränderungen des Erbgutes, die beispielsweise durch die Genschere CRISPR/Cas ausgelöst werden, handle es sich um eine gezielte Mutation. Dieses Vorgehen sei praktisch identisch mit der althergebrachten Mutationszüchtung. Dieser Interpretation widersprechen verschiedene Rechtsgutachten. Maximilian Stauber weist in seinem SAG-Gutachten darauf hin, dass den NGTV technisch komplexe Prozesse zugrunde liegen, die abhängig von Instrumenten und Laborbedingungen seien. Sie könnten nicht ohne menschliches Zutun entstehen. Aus diesem Grund seien sie klar als Gentechnik einzustufen.
Auch Biologen zweifeln, dass derartige Mutationen natürlicherweise auftreten könnten. Sie heben zudem hervor, dass es mit CRISPR/Cas möglich ist, gleichzeitig mehrere Veränderungen im Genom vorzunehmen, sogenanntes Multiplexing. Dass solche Mehrfachveränderungen in der Natur oder durch traditionelle Selektionsverfahren auftreten könnten, stufen Experten als äusserst unwahrscheinlich ein. Limagrain, eine der grossen Saatgutfirmen, erschuf im Labor eine Weizensorte mit einer dreifachen Resistenz gegen Mehltau. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Weizensorte natürlicherweise gleichzeitig diese drei gewünschten Resistenzgene aufweist, ist verschwindend klein. Limagrain schreibt zu ihrer Wunderpflanze: In der Natur hätte dazu jede einzelne Weizenpflanze beobachtet werden müssen, die seit 4 Millionen Jahren auf unserem Planeten wuchs, um eine einzige Pflanze zu finden, die spontan über die drei richtigen Versionen des Gens verfügt. CRISPR/Cas machte es möglich.
Als 2001 in der EU die Gentechnikregulierung in Kraft trat, war CRISPR/Cas noch nicht entdeckt. Würde dieses neue Gentechnikverfahren von den strengen Regulierungen der Gentechnikgesetzgebung ausgenommen, könnten damit hergestellte Pflanzen ohne Prüfung ihrer Risiken für Umwelt und Gesundheit angebaut und ohne Deklaration als Lebens- und Futtermittel vermarktet werden. «Die neuen Techniken müssen einer Überprüfung unterzogen werden, solange sie «neu» sind, d.h. solange bis die Verfahren gut verstanden werden, ihr Gegenstand genügend bekannt ist und mögliche ökologische oder chronische Gesundheitsschäden Zeit hatten aufzutreten und festgestellt zu werden», so das Fazit des Rechtsgutachtens. Dies gelte auch für die Schweiz. Da sich das Schweizer und das EU-Recht nicht nur dem Buchstaben nach, sondern auch im Geist ähnlich seien.
Die Eidgenössische Ethikkommission für die Gentechnologie im ausserhumanen Bereich (EKAH) kommt zum selben Schluss. Basierend auf dem Vorsorgegedanken müssten die neuen Gentechnikverfahren einer Risikoprüfung unterzogen werden, schreibt die EKAH in einem Bericht. Die neuen Gentechnikverfahren könnten nicht als bewährte Verfahren mit bekannten und beherrschbaren Risiken gewertet werden. Neue Studien zeigen, dass bei der CRISPR/Cas9-Methode immer wieder unvorhersehbare Veränderungen an unerwarteten Stellen im Genom auftreten – sogenannte «off target»-Effekte. Die EKAH weist ausserdem darauf hin, dass die Interaktion mit der natürlichen Umwelt fehlt, da es sich bei diesen Verfahren um Labortechniken handle und dass Erfahrungen aus anderen Bereichen, z.B. Asbest oder BSE zeigen, wie gefährlich ungenügende Risikoabklärungen seien.
Die Frage, ob die neuen Gentechnikverfahren und deren Produkte der Gentechnikgesetzgebung unterstellt werden oder nicht, sei schlussendlich eine strategische Entscheidung, folgert Stauber. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die Gesellschaft für allfällige Schäden durch den Einsatz der neuen gentechnischen Verfahren aufkommen müsste und keine Versicherungsgesellschaft bereit ist, diese Risiken zu versichern.
Das Cartagena-Protokoll wurde nach der kolumbianischen Stadt Cartagena benannt, wo es 2003 beschlossen wurde. Es regelt völkerrechtlich bindend den grenzüberschreitenden Transport und den Umgang mit GVO im Bezug auf die von der modernen Biotechnologie ausgehenden Risiken für die biologische Vielfalt oder die menschliche Gesundheit. Der Codex Alimentarius definiert die international geltenden Normen im Lebensmittelbereich. Eine Norm des Codex betrifft insbesondere Lebensmittel, die dank moderner Biotechnologie entstehen. (Bild: © Google, 2018 DigitalGlobe)