26.11.2014 | Nanotechnologie

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Eine EMPA-Publikation stellt bei tausenden von Studien zur Nanotoxikologie Missstände fest. Trotzdem wird gefolgert, es gäbe keinen Grund zu Besorgnis. Ein Widerspruch? Bild: Krug (2014).

Gelangen Titandioxid-Nanopartikel aus Sonnencremes über die Haut in den Körper? Sind Kohlenstoff-Nanoröhrchen so lungengefährlich wie Asbest? Finden Nanopartikel in Lebensmitteln den Weg durch die Darmflora in die Blutbahn? Solche und viele andere Problemstellungen verlangen Antworten durch toxikologische Einschätzungen von Nanomaterialien. Tatsächlich boomt derzeit die Disziplin der Nanotoxikologie. Am häufigsten orientieren sich publizierte Studien an Auswahlkriterien der Produkte und der am ehesten betroffenen Organe: So sind es für die Haut meist Materialien, die in Kosmetika (ZnO, TiO2) oder in bakteriziden Oberflächen (Ag, TiO2) eine Rolle spielen. Im Magen-Darm-Trakt sind es wiederum Nanomaterialien, die in Lebensmitteln oder über die Nahrungskette von Bedeutung sind. Die Anforderungen an die Nanotoxikologie sind gross, denn sie sollen Antworten liefern, ob bei Nanomaterialien spezifische gesetzliche Vorschriften anzuwenden sind.

Eine Publikation der Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt EMPA mit dem Titel „Nanosicherheitsforschung – sind wir auf dem richtigen Weg?“ hat die Literatur zur Nanotoxikologie der letzten 10-15 Jahre bezüglich humantoxikologischer Aussagen gesichtet und bewertet. Dazu sollen mehr als 10’000 Publikationen zu gesundheitlichen Effekten durch synthetische Nanomaterialien beim Menschen, biologischen Effekten bei Tieren sowie in Zellkulturen bewertet worden sein. Die Bilanz ist ernüchternd: Laut der EMPA-Studie bleiben die meisten Publikationen einer Antwort schuldig. Viele der Arbeiten würden sich widersprechen oder kämen zu völlig falschen Schlussfolgerungen. Als Gründe werden Missstände bei den Studiendesigns, Fehlerquellen in den Methoden und Schwachpunkte im toxikologischen Verständnis angeführt.

Viel Unbrauchbares: schlampig vorbereitete Versuche und Ergebnisse, die mitunter keinerlei Aussagekraft besitzen“, habe der Autor gefunden, heisst es in der Medienmitteilung der Bundesverwaltung. Es stellt sich unvermeidlich die Frage,wie es überhaupt möglich ist, 10'000 Publikationen mit der nötigen Sorgfalt zu prüfen. Aber auch wie tausende von Wissenschaftler so arbeiten und überhaupt in wissenschaftlichen Zeitschriften publizieren konnten. Daher lohnt sich ein Blick auf die Bilanz dieser gewaltigen Literaturrecherche.

Die Mängelliste in der EMPA-Publikation ist gross und kann hier nur zusammengefasst werden. Kritisiert werden Versuche mit drastischen Überdosen (Overload), kontaminierte Test-Nanomaterialien, fehlerhafte Untersuchungen der Lungengängigkeit (Inhalation versus Instillation), methodische Mängel mit der Konsequenz des Fehlens von Vergleichbarkeit, unzureichende Charakterisierung der eingesetzten Nanomaterialien, unzureichende Angaben zur Grösse der untersuchten Nanomaterialien, fehlerhaftes Design des toxikologischen Experiments (fehlende Standardisierung), Nicht-Einhalten toxikologischer Grundregeln, fehlende Kontrollproben, etc.

Immerhin lassen sich laut der EMPA-Publikation einige Hypothesen auf Grund einer Mehrheit der begutachteten Publikationen mit Ja beantworten. Dazu gehören: Synthetische Nanomaterialien können mit der Luft eingeatmet werden und werden dadurch auch systemisch (den ganzen Organismus betreffend) verfügbar; sie können mit der Nahrung aufgenommen werden und werden dadurch systemisch verfügbar; sie überschreiten Gewebsbarrieren und erreichen biologisch effektive Dosen im Körper; ihre Aufnahme ist abhängig von ihrer Grösse, Form und Löslichkeit.

Von Interesse ist auch die Aussage betreffend Langzeitwirkungen: „Im Kontext der publizierten Ergebnisse wird auch deutlich, dass die bisherigen Studien im Wesentlichen in kurzen Zeiträumen durchgeführt wurden. Da es ausserdem noch keine Situation zu geben scheint, in der eine epidemiologische Studie zu ENMs durchgeführt werden könnte, da die Belastungen am Arbeitsplatz bzw. der Allgemeinbevölkerung noch zu gering bzw. die Kollektive zu klein sind, gibt es keine belastbaren Aussagen zu möglichen Langzeitwirkungen.“

Ebenso interessant ist die Feststellung: „Aktuell führt eine globale Betrachtung der bisherigen vielen tausend Publikationen (mit wenigen, meist nicht sehr überraschenden Ausnahmen, wie Cadmium-haltigen Quantenpunkten, löslichen Zinkoxid- und Kupferoxidpartikeln, faserförmigen Kohlenstoffnanoröhrchen inklusive der katalytischen Metalle) zu dem Schluss, dass offensichtlich trotz grösster Anstrengungen vieler Arbeitsgruppen keine unerwarteten besorgniserregenden Ergebnisse für technische Nanomaterialien erhalten worden sind.“

Daraus wird geschlossen, dass es „keinen Grund zu erhöhter Besorgnis zu geben scheint“ (…) Es bleibe aber „die Unsicherheit, ob die möglicherweise besorgniserregenden Ergebnisse einfach noch nicht gefunden wurden oder ob es sie tatsächlich für die bisher untersuchten ENMs (ENMs=engineered nanomaterials) nicht gibt.“

Schliesslich stellt sich die EMPA-Publikation die Frage „Was erwarten wir von der Disziplin „Nanotoxikologie“? und kommt zum Schluss: „Auch wenn es keinen Grund zu erhöhter Besorgnis zu geben scheint, sind dennoch die Prinzipien der Nanotoxikologie, wie diese vor einiger Zeit formuliert wurden, zu beachten und sollten bei allen Experimenten berücksichtigt werden, denn die besonderen Eigenschaften der ENMs, die sich aus der Kleinheit, dem besonderen Oberfläche-zu-Volumen-Verhältnis und den Materialunterschieden ergeben, könnten zu einem veränderten Verteilungsschema und einer anderen Biokinetik führen und weitere unterschiedliche Effekte bewirken.“

Die Handlungsempfehlungen der EMPA-Publikation sind zahlreich und betreffen Punkte wie: „Die politischen Gremien müssen verstehen, dass sie für ENMs (Engineered Nanomaterials) keine absolute Sicherheit durch die Forschungsprogramme bekommen werden, da der Nachweis einer nicht vorhandenen Wirkung nicht gegeben werden kann. Man muss zurück auf die Ebene der Risikoabschätzung im Kontext der Expositionswahrscheinlichkeiten und Dosisbeziehungen.“ Zudem werden bessere Standardvorschriften, eine verbesserte Analytik sowie Langzeitstudien verlangt.

Dabei ist die EMPA gewillt, nicht nur Kritik zu üben, sondern in einem internationalen Verbund neue, brauchbare Standards für nanotoxikologische Untersuchungen zu erarbeiten. Sie plädiert für eine dominanter Rolle durch Experten, die sich im Umfeld toxikologischer Wirkprinzipien auskennen. Den Nichtregierungsorganisationen wird dabei eine eher fragwürdige Rolle zugeschrieben, denn diese „heben den warnenden Finger und wollen „vollkommene Sicherheit“ für den Verbraucher und die Gesellschaft.“

Der EMPA-Publikation kann viel Wertvolles entnehmen werden. Sie ist zu begrüssen, da sie der wissenschaftlichen Gemeinschaft, den Behörden und auch der Öffentlichkeit aufzeigt, wo die Mängel in heutigen nanotoxikologischen Untersuchungen liegen und was verbessert werden muss.

Doch wenn die Qualität der Resultate der Nanotoxikologie wirklich derart desolat ist, muss die Frage erlaubt sein, ob es überhaupt verantwortbar ist, derart schlecht untersuchte Nanomaterialien kommerziell zu bewilligen. Tatsächlich sind heute bereits tausende nanohaltige Produkte auf dem Markt und werden sogar in verbrauchernahen Bereichen wie Lebensmitteln, Lebensmittelverpackungen, Kosmetika, Sonnencremen oder in der Landwirtschaft eingesetzt. Die EMPA-Publikation geht kaum auf die Darlegung der Resultate herausragender nanotoxikologischer Untersuchungen ein. Sie macht keine Bewertung zur Vielfalt der heute eingesetzten Nanopartikel und der nanotoxikologischen Bedeutung durch diese Oberflächenmodifikationen und Funktionalisierungen.

Die Behauptung, dass die Löslichkeit der Nanopartikel und damit die Freisetzung von Ionen nichts mit den Themen Nanopartikel bzw. Nanorelevanz zu tun habe, ist zumindest fraglich, da gut bekannt ist, dass gerade Nanopartikel Ionen in stark erhöhtem Masse freisetzen und dadurch eine nanospezifische Toxizität entwickeln.

Es erscheint widersprüchlich, wenn vor allem Missstände bei Publikationen zur Nanotoxikologie festgestellt werden und trotzdem die Schlussfolgerung gezogen werden kann, dass es keinen Grund zu erhöhter Besorgnis zu geben scheine.

Die Schweizerischen Arbeitsgruppe Gentechnologie vertritt deshalb die Haltung, dass es ein Nanotechnologie-Gesetz braucht, wo unter anderem auch die Standards für die nanotoxikologischen Untersuchungen festgeschrieben sind.